Saint Lô – Hauptstadt der Trümmer und Einhörner

Die Stadt Saint Lô im normannischen Département La Manche stand schon länger auf unserer Agenda, eigentlich sind wir immer nur durchgefahren und fanden das Städtchen recht belebt und bunt. Blumenschmuck und Grünanlagen sorgen im Sommer für eine echte Wohlfühlatmosphäre. Dennoch: Der Ort wird in Reiseführern über die Normandie kaum erwähnt, das große Gestüt ausgenommen. 

Einfallstraße von Saint Lô in der Normandie bis an den Fuß der Stadtbefestigung
Saint Lô ist keine typische Touristenstadt. Denn die Stadt wurde während der Kämpfe im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört – und modern wieder aufgebaut.

Saint Lô – vom Sterben einer Stadt in der Normandie

Die Skulptur La Laitière Normande in St Lô in der Normandie ist eine Nachbildung von Louis Derbré.
Die Skulptur La Laitière Normande ist eine Nachbildung von Louis Derbré. Das Original von Arthur Le Duc wurde von den Nazis eingeschmolzen.

In der Tat würde ich wahrscheinlich von malerischen mittelalterlichen Gässchen innerhalb der imposanten Stadtmauer schreiben. Hübschen Häusern und pittoreskem Marktidyll, so wie auf einem Gemälde von Fernand Legout-Gérard zu sehen ist. Die begrünte Place des Beaux-Regards mit ihrer Statue La Laitière Normande beschreiben, die heute immer noch aussehen würde wie Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Bild von Maurice Orange. Oder von der Stadtsilhouette mit den Türmen der Église Notre Dame schwärmen, die über der Vire thront, stolz und trutzig.  Würde ich, wäre nicht der Zweite Weltkrieg gewesen.

Der Krieg, die Besatzung und die Befreiung, sie änderten das Stadtbild von Saint Lô für immer. Sie änderten das Leben seiner Bewohner – oder beendeten es. Die Statue mit dem Milchmädchen holten sich gleich die Nazis, die die Bronze gut für ihre Waffenschmiede gebrauchen konnten. Ein Großteil der Stadt wurde während der Operation Overlord in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 1944 von den Alliierten zerstört, die Saint Lô aus der Luft quasi pulverisierten. In jener Bombennacht haben circa 300 Menschen ihr Leben verloren. Bewohner der Stadt und von den Nazis im Gefängnis inhaftierte Résistance-Aktivisten. Der Rest der Stadt fiel den Kämpfen um Saint Lô zum Opfer, zum Teil durch Artillerie-Beschuss der deutschen Truppen, zum Teil wiederum durch die Alliierten. Am Ende waren im Juli 1944 rund 97 Prozent der Stadt unwiederbringlich verloren. Der irische Dichter Samuel Beckett, der als Rotkreuzhelfer in Saint Lô arbeitete, prägte den Begriff von der "Hauptstadt der Ruinen".

Warum die Zerstörung von Saint Lô ein schwieriges Thema bleibt – auch 75 Jahre nach Kriegsende

Die Bewohner Saint Lôs, sie waren zu Märtyern geworden, hatten Leben und Stadt für die Befreiung Frankreichs verloren. Nach dem Krieg wurde Saint Lô daher – zusammen mit weiteren 20 Städten – die Auszeichnung "la Légion d'honneur" verliehen. Auch der Orden "Croix de Guerre 1939-45" ziert die Stadt. An die zivilen Opfer der Bombennacht erinnert eine große Gedenkplatte am Fuß der Festungsmauern, das Tor zum Gefängnis ist Gedenkstätte für die im Bombenhagel gestorbenen Mitglieder der Résistance. Auf dem Friedhof haben die verstorbenen Zivilisten ein gemeinsames Gräberfeld erhalten. Und nicht zuletzt erinnert das moderne Stadtbild daran, dass hier Geschichte und menschliches Leben einfach ausradiert wurden. Der größte Teil der Zerstörungen ist dabei auf den Beschuss der Alliierten zurück zu führen. Bis heute ist das ein Thema, über das gerne der Mantel des Schweigens ausgebreitet wird – schließlich kamen die Amerikaner, die Briten und Kanadier, um zu befreien. Nicht um zu töten und eine Spur der Verwüstung hinter sich zu lassen.  Und wo stünden wir heute, in Europa, ohne den D-Day und die Schlacht um die Normandie? Deshalb bleibt das Gedenken in Städten wie Saint Lô, Caen oder Le Havre schwierig, denn hier haben zu viele Menschen sinnlos ihr Leben gelassen. Kann das gehen, gleichzeitig die Befreiung zu feiern und den Hyper-War zu kritisieren? Wir dürfen nicht vergessen: Ohne den Aggressor Hitlerdeutschland hätte es die militärische Intervention nicht geben müssen, die so viele Menschen – Zivilisten wie Soldaten, egal welcher Nation – das Leben kostete.

Eine Stadt erfindet sich neu – das moderne Saint Lô

Rathausturm in Saint Lô in der Normandie.
Der Beffroi, der Rathausturm, ist eines der Wahrzeichen der Stadt, die wie Phönix aus der Asche stieg.

Nach dem Krieg gab es Überlegungen, die Trümmer der Stadt einfach liegen zu lassen und Saint Lô an anderer Stelle komplett neu zu errichten. Doch das wollten die Bewohner der Stadt nicht. Bereits im August waren 180 wieder in die zerstörte Stadt zurückgekehrt – 1946 waren es bereits wieder über 6.000 Menschen (von rund 12.000 vor dem Krieg). In einem ersten Schritt wurden die Bewohner in einfachen Baracken untergebracht. Die vorgefertigten Holzhütten kamen aus Schweden, aus Finnland, der Schweiz, den USA, Kanada und Frankreich. Bis zu 1.000 solcher Hütten standen zwischenzeitlich auf dem Stadtgebiet, gaben den Opfern eine neue Heimat. Obschon als Provisorium gedacht, erwiesen sich die Holzhäuser als langlebig. Und das, obwohl sie weder dem normannischen Sturm, noch dem Frühjahrshochwasser wirklich gewachsen waren und nicht wenige einfach in Flammen aufgingen. Selbst 1974 waren immer noch 103 der Baracken übrig, und noch heute gibt es einen letzten Straßenzug, dessen Bewohner die ehemaligen Baracken zu echten Schmuckstücken umgebaut haben. In einer zweiten Wiederaufbauphase wurden die Gebäude und Straßenzüge der Stadt wieder neu errichtet. Die Gebäude erinnern zum Teil an die Architektur Le Havres, schmucklose, wuchtige Betonbauten. Während das Stadtzentrum Le Havres relativ stringent und aus einem Guss wirkt, könntet Ihr in Saint Lô an manchen Stellen den Eindruck gewinnen, die Architekten hätten gewürfelt, welches Gebäude wo seinen Platz finden soll. Der oft als "Brutalismus" (abgeleitet von beton brut, rohem Beton) diskreditierte Architekturstil ist längst Kult und kennzeichnend für die Nachkriegsepoche. Das Stadtensensemble von Le Havre zählt deswegen mittlerweile zum UNESCO Weltkulturerbe. In Saint Lô wurden 2018 fünf der modernen Gebäude auf die Liste der Monuments historique gesetzt: Das Rathaus, der Rathausturm, die  Markthalle, das Theater und die Salle Allende. Die Stadtentwicklung ist längst nicht abgeschlossen. Bis 2022 werden in der Innenstadt verschiedene Projekte umgesetzt, die zu einer Aufwertung des Ensembles führen sollen. 


Wahre Schönheit kommt von innen

Ohnehin sind es die inneren Werte, die Saint Lô zu einer lebens- und liebenswerten Stadt machen. Mit rund 20.000 Einwohnern ist die Stadt zwar die zweitgrößte der Manche und Verwaltungssitz des Départements, gemessen an dem, was wir in Deutschland kennen, doch eher eine Kleinstadt. Das Ambiente ist dabei aber sehr urban und belebt, es existieren gerade in der Innenstadt viele kleinere und größere Geschäfte, Cafés und Restaurants (vom Imbiss bis zum Sternerestaurant). Die Wochenmärkte sind legendär, geradezu üppig bestückt und an den Samstagen ein beliebter Treffpunkt. Was es in Läden und auf dem Markt nicht gibt, das hat sich mittlerweile im Speckgürtel zwischen Umgehungsstraße und Autobahn angesiedelt. Saint Lô hat ein eigenes Theater und ein Museum der schönen Künste, es weist eine überaus lebendige lokale Musikszene auf und nationale Künstler aller Genres geben in Saint Lô Gastspiele. Gefeiert wird oft und gerne, in den Sommermonaten ist an jedem Wochenende etwas los. Parks und Grünflächen laden zum Verweilen ein. Darüber hinaus darf sich die Stadt mit dem drei Blumen des Labels  "Villes et Villages Fleuris" schmücken. Die ganze Atmosphäre in der Stadt ist entspannt und freundlich.

Ein Tag in Saint Lô – das solltet Ihr nicht verpassen

Hab ich Euch ein bisschen neugierig auf Saint Lô in der Normandie gemacht? Das sind meine Highlights:

  • Die Remparts sind die ehemalige Stadtbefestigungsanlagen von Saint Lô. Erhalten sind noch einige Torbögen und Türme, vom Tour des Beaux Regards habt Ihr einen fantastischen Blick über die tieferliegenden Stadtteile und das Tal der Vire.
  • Auf die Spuren der Kriegswunden könnt Ihr Euch an und in der Kathedrale Notre-Dame begeben, die unter deutschem Artilleriefeuer fast völlig zerstört wurde. Von außen wirkt die Kirche mit ihren zerschossenen Türmen und dem "geflickten" Portal immer noch verletzt und verletzlich, von innen (Hunde dürfen nicht mit rein) ist die Kirche einfach nur ruhig, friedlich und kontemplativ. 
  • Weitere Punkte auf einer Tour der Erinnerung sind die Inschrift für die getöteten Zivilisten, der ehemalige Eingang zum Gefängnis mit der Urne, die an die von den Deutschen deportieren und ermordeten Einwohner Saint Lôs erinnert. Die älteste Kirche Saint Lôs, die ehemalige Abteikirche Sainte-Croix wurde während der Kämpfe ebenfalls stark beschädigt; deutsche Soldaten sprengten überdies den Kirchturm, der durch ein modernes Bauwerk ersetzt wurde. Sehr eindrucksvoll und bedrückend fand ich das Gräberfeld auf dem Friedhof, auf dem die Toten des Luftangriffs vom 6. Juni ihre letzte Ruhestätte fanden (Hunde sind auf dem Friedhof allerdings nicht erlaubt).
  • Wichtige Punkte auf dem Rundgang der Stadt findet Ihr übrigens auf einer virtuellen Tour: Auf den Tafeln sind QR-Codes angebracht, die Ihr mit dem Smartphone scannen könnt. Die Webseite Regard Architectural liefert Euch Hintergrundinfos (auch auf Deutsch!). Auch mit der App Kit-M könnt Ihr Euch durch die Stadt bewegen. 
  • Der Markt auf der Place Général de Gaulle gilt als einer der schönsten in der Manche und findet Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Samstag, immer vormittags, statt. Samstags sind neben Lebensmitteln auch Bekleidung, Accessoires und Krämermarktware im Angebot. Denkt daran, eine feine fetttriefende Bratwurst zu essen.
  • Die Parks und Grünanlagen der Stadt sind wahre Oasen. Absolut sehenswert ist der Vallon de la Dollee mit Fitnessparcours und witzigen Kunstwerken rund um den See.
  • Das Gestüt Haras de Saint Lô ist der einzige Gebäudekomplex, der nach dem Krieg anhand alter Baupläne originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Vom 22. Juni bis 22. September könnt Ihr das Gestüt täglich nachmittags von 14 bis 18 Uhr besichtigen. Führungen finden donnerstags vom 18. Juli bis 22. August statt. Dafür müsst Ihr Euch bei der Tourist-Info anmelden. In den Sommermonaten finden zudem zahlreiche Veranstaltungen auf dem Gelände des Gestüts statt. Die Parkanlagen rund um die Ställe sind ganzjährig zugänglich. 
  • Die letzten Reste des mittelalterlichen Saint Lô, könnt Ihr zum Beispiel in den Straßen Rue Porte au Four und Rue Saint-George finden, auch wenn sich einige in einem wirklich erbarmungswürdigen Zustand befinden :-( .  

Apropos: Saint Lô mit Hund

Hunde-Hinweisschilder in Saint Lô in der Normandie.
Saint Lô ist eine hundefreundliche Stadt. Auf Schildern werdet Ihr darauf hingewiesen, dass Ihr die Hunde anleinen und den den Kot entsorgen müsst.

 

 

Ihr werdet überrascht sein, wie viele Hunde Ihr wirklich überall in Saint Lô antrefft. Sogar auf dem Samstagsmarkt wimmelt es vor Hunden. In den Grünanlagen, wie auf den Beaux Regards oder im Park Vallon de la Dollee dürft Ihr Euren Hund mitnehmen, er ist aber an der Leine zu führen. Überall stehen Schilder, dass Ihr den Kot einsammeln und mitnehmen müsst, aber Kotbeutelspender konnte ich bislang keine ausmachen. Trotzdem ist die Stadt (im Vergleich zu so manch anderem Dorf in der Normandie) sehr sauber. Nehmt Euch deshalb einen ausreichenden Vorrat an Kotbeuteln mit. 

PS: Und wie war das mit den Einhörnern?

Einhorn-Statue in Saint Lô in der Normandie, erschaffen vom Künstler  Philippe Rebuffet
Einhorn-Statue von Philippe Rebuffet.

Die Einhörner sind im Stadtbild von Saint Lô allgegenwärtig, so wie die Pferde. Sie finden sich im Stadtwappen und als Skulpturen im Straßenbild, so wie das Kunstwerk von Philippe Rebuffet. Auch oben auf dem Beffroi, dem Rathausturm, thront ein Einhorn und blickt hinab ins Tal der Vire. Der Rathausturm selbst mit seinen unendlichen Windungen erinnert an das Horn des Fabelwesens. Ursprünglich war das Einhorn ein Symbol für die Jungfrau Maria und die Unschuld.

Ja und heute? Da steht das Einhorn für das Gute, das Erträumte, das Wundersame. Und all das passt zu dieser Stadt Saint Lô ganz gut. 

Praktische Hinweise und Lese-Tipps

  • Da die Parksituation innerhalb der Remparts etwas unübersichtlich ist, empfehle ich Euch, den Parkplatz Boulevard de la Dollee zu benutzen. Hier stehen Euch viele kostenfreie Parkplätze zur Verfügung und auf die Remparts kommt Ihr ganz bequem mit einem Aufzug. Innerhalb der Stadtmauern könnt Ihr alle Ziele fußläufig erreichen. Vom Parkplatz in der Dollee kommt Ihr zum Vallon de la Dollee und auch zu den letzten mittelalterlichen Häusern in Saint-Georges. Der Parkplatz ist ab dem großen Kreisverkehr unterhalb der Stadtbefestigung ausgeschildert.  
  • Wenn Ihr Lust auf einen Abstecher in die Natur habt, solltet Ihr einen Spaziergang an den Roches de Ham in der Nähe einplanen. 
  • Weitere Sehenswürdigkeiten und Ausflugstipps gibt es auf der Seite der Tourist-Information (auf Deutsch). 
  • Auf der Seite Léo 1944 werden die letzten Tage in Saint Lô vor der Befreiung nachgezeichnet – aus der Sicht eines 14-jährigen Jungen (nur Französisch).

Zu guter Letzt: Wir haben Saint Lô im Juni 2917, im Februar und März 2019 besucht. Der Artikel ging am 18. März 2019 online.  

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